Trans. Ein Überzeichnungsprojekt – Rede: Claus Mewes

Trans. Ein Überzeichnungsprojekt, 26. 5. bis 13. 6. 2016.
Barutzki Design, Virchowstr. 12 – 14.
Rede: Claus Mewes

Lieber Thomas Rieck, liebe Künstlerinnen und Künstler, sehr geehrter Herr Barutzki, sehr geehrte Damen und Herren,

„Trans-“ ist ein Präfix griechisch-lateinischen Ursprungs und wird als Wortbildungselement bis heute in kaum zählbaren materiellen, symbolisch-geistigen und religiösen Zusammenhängen eingesetzt. Den Übergang vom Materiellen zum Geistigen manifestieren anschaulich die Vorstellungen von der Transfiguration des Menschen Jesus in immaterielle Göttlichkeit oder der Transsubstantiation des Leibes Christi durch die Oblate.

Besonders im Europa des 19. Jahrhunderts häufen sich angesichts der Industrialisierung Begriffe im Zusammenhang von Energieübertragung, von überseeischem Handel und Reisen mit dem Präfix „trans-“: etwa Transportfrachter, Transmissionsriemen, Transatlantikroute und Transsibirische Eisenbahn. Im 20. Jahrhundert werden die mechanisch maschinellen Techniken überführt in elektrische und elektronische Qualitäten wie beim Transistor, in der Medizin werden Transplantationen von Organen und Transfusionen von Blut realisiert.

In Politik und Gesellschaft spielen Transaktionen und Transitabkommen eine stimulierende Rolle zur grenzüberschreitenden Kommunikation von Ware, Geld und Wissen. In den Grammatiken vieler europäischer Sprachen werden Vorstellungen verschiedener existentieller Durchgangsformen zwischen Hier und Dort, zwischen Leben und Tod, jeweils im Transitiv als transitorisch bezeichnet.

Auch im Ästhetischen gehören Formen des „trans-“ zum wesentlichen Ausdrucksrepertoire: Kunsthistoriker und Literaten operieren gern mit Beschreibungen, die mit „trans-“ Unklares, Doppeldeutiges, Diffuses, Diaphanes und Komplexes zu erfassen suchen: Transformation, Transparenz, Transluzidität.

Mit allen Begriffen verbindet sich ein Wechsel eines Zustandes in den anderen, eine Veränderung der Örtlichkeiten und Zeiten, eine prozesshafte Entwicklung, unscharfe Relation, undeterminierte Bedeutung – also das Gegenteil von Eindimensionalität, Festlegung, Stillstand und Finalität. Dialog und Dialektik verweisen auf variable Kräfteverhältnisse, wenn von „trans-“ die Rede ist.

Auf dieser begrifflichen Folie hat sich in Hamburg eine besondere Qualität künstlerischer Praxis entwickelt: Mit der heutigen Ausstellungseröffnung von Trans werden zum vierten Mal die Ergebnisse der nonverbalen Zusammenarbeit auf Augenhöhe von bildenden wie zeichnenden Künstlerinnen und Künstlern gezeigt.

Während vor zwanzig Jahren 1996 im Künstlerhaus Weidenallee 22 Hamburger Künstlerinnen und Künstler an dem Überzeichnungsprojekt Trans teilnahmen, verdoppelte sich 1999 zur Ausstellung im Kunsthaus die Anzahl der Mitwirkenden auf 45. An der nächsten Trans-Aktion, gezeigt in der winzigen „Galerie du Tableau“ von Bernard Plasse in Marseille, machten 16 Künstlerinnen und Künstler mit; diesmal, wieder in Hamburg, sind es 20. Im Künstlerhaus Weidenallee hielt der damals im Kunsthaus beschäftige und heutige Direktor der Villa Merkel, Andreas Baur, die Rede zur Ausstellungseröffnung, im Kunsthaus 1999 sprach Hanna Hohl, die langjährige Leiterin des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle. In Marseille wurde wohl der ambulante Stehtisch auf die Rue Sylvabelle geklappt und für den Vernissage-Rotwein mit Bechern ausgestattet.

Als damals die Hamburger Presselandschaft noch bunter war, noch wesentlich mehr und ausführlicher über zeitgenössische Kunst in der Stadt berichtete, schrieb 1999 der Feuilletonist der Hamburger Rundschau: “Trans (im Kunsthaus) ist eine Ausstellung zum Flanieren und Entdecken. Je besser man die Künstler kennt, desto mehr Spaß bereiten die Bilder. Vor allem aber bietet sich die recht einmalige Gelegenheit, einige der wichtigsten künstlerischen Positionen dieser Stadt im hautnahen Dialog zu erleben. Sie haben sich viel zu sagen”(Ralf Pörschke).

Insgesamt haben über hundert Künstlerpersönlichkeiten aus Hamburg und Marseille, aus den USA, aus Norwegen, China, Japan, Korea und Griechenland das Langzeit-Projekt Trans mitgestaltet. Manche waren einmal dabei, viele mehrfach, einige, wie Horst Hellinger und Renate Anger, sind inzwischen nicht mehr unter uns, und einen harten Kern von vier Aktiven scheint das Projekt unverändert zu faszinieren. Zu diesem Quartett, bestehend aus Friedrich Einhoff, Dietrich Helms, Ferdinant Fux und Thomas Rieck, zählen in dieser vierten Schau unter dem Motto Trans: Klaus Becker, Almut Heise, Annette Meinke-Nagy, Stefan Oppermann, Sabine Mohr, Barbara Noell, Nikos Valsamakis, Laura Sünner, Maria Fisahn, Yussef Tabti, Marc Lüders, Shan Fan, Choi Ahoi, Ralf Jurszo, Gunnar Gerlach und Ole Hagen.

Dem Erfinder und Organisator von Trans, Thomas Rieck, ist einerseits das Prinzip der Überzeichnung aus eigener Arbeitsmethode vertraut, andererseits gehört er zu einer Generation, die sich generell für Modelle von kommunikativen Arbeits- und Handlungsformen in Kunst und Gesellschaft interessiert und eingesetzt hat. Mit anderen zusammen war Rieck federführend aktiv, als sich, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine innovative und vielseitige Kunstszene zwischen Stadtraumgestaltung, Selbstorganisation und ästhetisch neuen Ansätzen in Hamburg herausbildete. An der beispielgebenden Gründung eines ersten Künstlerhauses war Thomas Rieck maßgeblich beteiligt, dessen Existenz er beim erzwungenen Standortwechsel im Jahr 2004 – aus Eimsbüttel nach Altona – wiederum mit sicherte. Durch die Schaffung eines kollegialen Umfelds und, damit verbunden, einer gemeinschaftlichen Diskursebene konnte auch so ein ungewöhnliches Projekt wie Trans entstehen, das sowohl auf gegenseitigem Vertrauen der Beteiligten als auch auf einer jeweiligen Neugier am Werk des Anderen, und letztlich auf dem Interesse an der kollektiven Innovation basiert.

Die dafür vorliegenden Beispiele aus der jüngeren Kunstgeschichte reichen zurück zu den Überarbeitungsmethoden von Asgar Jorn, Arnulf Rainer und Dieter Roth, über die Gemeinschaftsproduktionen von Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat bis zu dem Schaffen im Kollektiv verschiedener Künstlergruppen wie COBRA, SPUR, WIR, GEFLECHT, KOLLEKTIV HERZOGSTRASSE und endart – um nur einige zu nennen. Die GEFLECHT-Künstler ließen zum Beispiel in den 1960er Jahren am gemeinsamen Ateliertisch Papiere kreisen, auf denen sie Arbeiten zum Thema Auto zeichneten und immer wieder spontan überarbeiteten. Die Gruppe endart aus Berlin legte in den 80er Jahren eine Metallplatte aus, auf der die einzelnen Mitglieder beim Telefonieren Notizen, Nummern und Männchen einritzten. Die dann nach Wochen vollgekritzelte Platte wurde anschließend gedruckt. Auch die Surrealisten um André Breton und Max Ernst werden mit ihren “écriture automatique”-Verfahren für Trans Pate gestanden haben.

Das Hamburger Projekt Trans zeichnet sich dabei aus durch große künstlerische Offenheit innerhalb eines einfachen Rahmens mit jeweils individuellen Zugriffs- und Austauschmöglichkeiten: Der Eine, die Eine, stellt das geschaffene, oft unfertige Werk zur Disposition, welches von einem anderen, einer anderen, nach eigenem Interesse zur Bearbeitung ausgewählt werden kann.

Die Ergebnisse sind künstlerische Lösungen, deren Autorenschaft und persönliche Handschrift aufgeht in einem unerwarteten Produkt jeweils individueller Phantasie zwischen Synthese und Synkrise.

Diese für alle Beteiligten und die Betrachter äußerst anregende Dimension hat Friedrich Einhoff wohl im Blick gehabt, als er vor kurzem, bei der Vorbereitung der aktuellen Überzeichnungs-Runde zu Thomas Rieck meinte: „Am liebsten würde ich nur noch Trans machen“. Also, auf die nächsten zwanzig Jahre Trans! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.